Comic Dokumentation : Ist das diese Gerechtigkeit ?

Hintergrund des Comics

In der Comicdokumentation „Ist das diese Gerechtigkeit ?“ zeichne ich einen Verhandlungstag am Oberlandesgericht München beim NSU-Prozess nach. Ich habe am 345. Verhandlungstag auf der Besuchertribüne mit Buntstiften, Wassertankpinsel und Aquarellfarben gearbeitet. Ich habe nicht mitgeschrieben. Um die Comicdokumentation anzufertigen habe ich mich an den Verhandlungsprotokollen des NSU-watch orientiert. Ich bin sehr dankbar, dass ich Zitate aus den Verhandlungsprotokollen verwenden darf.

Am Mittwoch, den 11. Juli 2018 fand der letzte, der 438. Verhandlungstag statt. Das schriftliche Urteil erfolgte am 21. April 2020. Der NSU-Watch hat in den Monaten an jedem Verhandlungstag mitgeschrieben und mittlerweile alles als Protokoll und zusätzlich als Kurzprotokoll veröffentlicht.

Unter dem visuellen Comic gibt es eine rein textbasierte Version des Comics, Screenreadable Comic Version und gleich im folgenden eine Audiodatei eingelesen von Illi Anna Heger.

Visuelle Version des Comics

Comic: Ist das diese Gerechtigkeit, das ganze Comic wird im folgenden in reinen Text transkribiert

Transkription des Comics in reinen Text

Ist das diese Gerechtigkeit?

Die Comic-Dokumentation von Illi Anna Heger besteht aus aquarellierten Buntstiftzeichnungen; braun und Blautöne dominieren. Ein Großteil der Bilder sind während der Verhandlung zum NSU Prozess vor Ort entstanden. Die Zitate orientieren sich an Mitschriften von NSU-WatchX am 345. Verhandlungstag, www.nsu-watch.info.

Karlsplatz, 13. April 2013.

Einige Tage vor dem angesetzten ersten Verhandlungstag des NSU-Prozess, versammeln sich 2013 über 5000 Menschen in München. Eine sehr große Menschenmenge hat sich vor mehrstöckigen Gründerzeithäuser zusammengefunden. Die Menschen stehen dicht gedrängt, einige schwenken rote Fahnen. Auf Transparenten stehen Slogans: „kein Mensch ist illegal“, „keine Zukunft für Nazis“

Bei diesem Prozess werden neun rassistische Morde, ein Mord an einer Polizistin, zwei Terroranschläge mit Bomben, 15 Banküberfälle und eine Brandlegung verhandelt. Diese Taten werden dem so genannten nationalsozialistischen Untergrund (NSU) zugeschrieben. Es gibt fünf Angeklagte.

Die Demonstration soll Solidarität mit den Hinterbliebenen der getöteten Menschen und mit den zahlreichen Verletzten zeigen. Sie wendet sich gegen rechte Gewalt, gegen institutionellen Rassismus und gegen alltäglichen Rassismus.

Der Münchner Stachus ist voll.

Nymphenburger Straße, 9. Februar 2017.

9 Uhr 45

Am 345. Verhandlungstag ist der Platz vor dem Oberlandesgericht in München fast leer.

Jede Person mit Ausweis kann den NSU-Prozess besuchen. Es gibt einen separaten Eingang wegen der Brisanz der Verhandlung. Vor dem mehrstöckigen Betonbau neben dem U-Bahn-Aufgang steht ein weißes Zelt im Eingangsbereich. Dort stehen schon einige Menschen an.

Ich gehe mit Mantel bekleidet zum Eingang. Unter meinem Arm klemmt ein großes Skizzenbuch.

Dann im Gebäude, warte ich vor einem Banner: Oberlandesgericht – Eingang NSU Verfahren – Zuhörer.

Zwei uniformierte Polizisten bedienen einen Gepäck Scanner, wie am Flughafen. Ein Schild im Hintergrund verbietet das Fotografieren. Ein dritter Polizist schaut auf den Bildschirm was in den Taschen ist.

Nur akkreditierte Besucher dürfen ihr Notebook mit in die Verhandlung nehmen.

Ich zeige einer blonde Polizistin meine Malutensilien: Buntstifte, Pinsel, Skizzenbuch und eine kleine Box mit Aquarellfarben, sie fragt: „Nehmen Sie das mit? Was ist das?“ „Den Wassertankpinsel brauche ich. Der vorsitzende Richter hat mir Erlaubnis erteilt auf der Besuchertribüne zu zeichnen.“ sage ich schnell.

„Gehen Sie bitte hoch, die Tribüne ist im zweiten Stockwerk.“ Sie zeigt auf das Treppenhaus mit offener Betonfassade und ich folge den Anderen nach oben.

10 Uhr 20

Der Verhandlungssaal ist noch leer. Ich stehe oben auf der Besuchertribüne hinter der Glaswand an der Balustrade. Unten im Verhandlungssaal die leeren Tische der Richter hinten in der Mitte, rechts die der Bundesanwaltschaft, links die der Angeklagten und Verteidiger, und in der Mitte des Raumes der Tisch für die Sachverständigen.

10 Uhr 36

Die Angeklagten, ihre Verteidiger, die Nebenkläger, ihre Anwälte, die Richter und die Staatsanwälte treffen ein. Heute beginnt die Verhandlung eine Stunde später als gewöhnlich. Mathias Grasel, ein Verteidiger sortiert seine Unterlagen auf dem Tisch.

10 Uhr 45

Der vorsitzende Richter, Manfred Götzl, tritt ein und alle erheben sich. Am Richtertisch steht eine blonde Richterin mit Pferdeschwanz und 3 Richter mit kurzen braunen Haaren, alle vier in Roben. Götzl: „Guten Morgen.
Es sind anwesend die Vertreter …“.

10 Uhr 50

Die Verhandlung beginnt. Götzl: „Beim gestrigen Beschluss des Senats, mit dem er die Verfügung des Vorsitzenden bestätigt, hat es sein Bewenden. Damit werden die Anträge die Befragung zu unterbrechen und den Sachverständigen aufzufordern, seine handschriftlichen Notizen von 773 Seiten aufzuweisen, abgelehnt.“

Ich sitze vorn auf der Tribüne mit dem Skizzenbuch auf den Knien und denke mir: „Die Vorgänge sind formal und langwierig. Jetzt wiederholt er den gestrigen Beschluss. Es geht quälend langsam voran.“

11 Uhr 3

Pausenantrag der Verteidigung. Die drei Verteidiger: Wolfgang Heer, Anja Sturm und Wolfgang Stahl sitzen nah beieinander und diskutieren. Beate Zschäpe sitzt abseits am Ende desselben Tisches.

11 Uhr 30

Götzl vom Richtertisch aus: „Die Hauptverhandlung wird bis 11:50 unterbrochen.“

11 Uhr 40

Im Pausenraum gibt es Wasser, Tageslicht und Austausch. Menschen an Stehtischen unterhalten sich. Eine Person mit braunen Haaren und dunklem Kapuzenpullover: „Sag mal, was steht heute an?“ Eine andere Person mit weißem Hemd und Dutt erwidert: „Alle Anträge müssen der Reihe nach abgearbeitet werden. Danach kann die gestrige Befragung des Sachverständigen fortgesetzt werden.“

11 Uhr 55

Heer, Sturm und Stahl beantragen eine Unterbrechung bis 14:30 um ein Ablehnungsgesuch gegen die Mitglieder des Senats zu stellen.

12 Uhr

Mittagspause und Zeit für die Verteidiger mit Zschäpe zu sprechen die noch nichts von dem Ablehnungsgesuch weiß. Zschäpe sitzt mit ihrem Verteidiger Grasel an der einen Seite des Tisches. Ganz weit weg auf der anderen Seite sitzen Stahl, Heer und Sturm sehr weit entfernt zusammen.

12 Uhr 10

Im Treppenhaus, mein Skizzenbuch unter dem Arm, frage ich einen der anderen Besucher auf der Treppe: „Müssen wir jetzt alles mitnehmen?“ „Ja und nachher wird wieder durchleuchtet.“

13 Uhr 5

Hermann Borchert trifft ein. Zschäpe sitzt jetzt mit insgesamt fünf Menschen aus der Verteidigung am Tisch. Götzl beginnt: „Frau Zschäpe, ist das ihr Gesuch, das von Sturm, Heer und Stahl gestellt wurde?“ Sie schüttelt den Kopf.

13 Uhr 13

Beratungspause des Senats und ich bin wieder im Pausenbereich für die Tribüne. Ich frage die anderen: „Es geht so zäh vorwärts. Denkt ihr, dass die Verteidiger verzögern?“ „Für eine gerechte Verhandlung ist rechtliches Gehör wichtig.“ sagt eine kleine Frau mit Lederjacke und ein großer Mann im Hemd räumt ein: „Das kann die Verteidigung ausreizen.“

13 Uhr 40

Der Blick geht von unten durch den Verhandlungssaal. Unter der hohen Decke sind geometrische Schallelemente angebracht. Auf der Tribüne sitzen Besucher und Journalisten. In den Stuhlreihen direkt unter der Tribüne sitzen Nebenkläger und ihre Anwälte. Davor neben den Tischreihen für alle Angeklagten und ihrer Anwälte, eine Reihe uniformierter Polizisten.

Die Ablehnung der beantragten Unterbrechung ist sachgerecht. Götzl spricht: „Dann setzen wir Ihre Anhörung fort, Herr Prof. Saß. Wir waren bei der Befragung durch Frau Rechtsanwältin Sturm stehen geblieben.“

13 Uhr 49

Sturm am Laptop schräg links von Saß: „Wann haben Sie sich ihre Notizen zu Frau Zschäpe angesehen?“. Er antwortet: „Die Notizen habe ich immer wieder durchgeschaut.“

14 Uhr 11

Pause damit Sturm etwas in ihren Notizen suchen kann.

14 Uhr 15

Ich bin wieder im Pausenraum und frage einen bärtigen mit Brille aus: „Beim 325. Prozesstag wurde ein rassistisches Lied einer rechten Band vorgespielt. Weshalb?“ „Das war auf dem Rechner vom Angeklagten Wohlleben. Allen im Saal sollte klar werden, was er hört und wer er ist.“ Mit dem Wasserbecher in der Hand erwidere ich: „Das ganze Lied? Die Menschen, die das beleidigen soll, sitzen in der Nebenklage und müssen mithören!“

14 Uhr 18

Zurück im Saal, schweift der Blick auf die vielen oben an der Decke hängenden Formen. Unten schemenhaft die Richter und die Verteidigung. Sturm befragt den Sachverständigen.

14 Uhr 51

Pause

15 Uhr 10

Sturm befragt den Sachverständigen

15 Uhr 17

„Was konkret haben Sie sich da angesehen. Alle 773 Seiten?“ Saß antwortet und seine Sprechblasen ringeln sich über das große Panel: „Ich habe die Gutachtenfragen im Kopf und natürlich was die Prozessbeteiligten wohl für Fragen haben. Wenn Sie mich fragen was ich für relevant gehalten habe, dann sind das die Beweisfragen. Aber es hat mich mal dieser Aspekt, mal jener Aspekt mehr interessiert. Ich habe die Materialien im Hinblick auf die Hangfrage, dann auf die Gefährlichkeit durchgesehen.

15 Uhr 30

Stahl fragt: „Woran machen Sie heute fest, dass Frau Zschäpe eine zustimmende, ich-syntone Haltung zur Delinquenz aufweist?“ Saß: „Das ist im Grunde eine Extrapolation aus der jahrelangen Entwicklung seit dem Untertauchen. Es sind keine verlässlichen, belastbaren, konkreten Anhaltspunkte deutlich geworden, die dafür sprechen, dass es zu einer Änderung gekommen ist.“

15 Uhr 42

Wenn der Hang zur Delinquenz festgestellt wird, kommt sie nicht mehr aus dem Gefängnis! Ich sitze konzentriert zeichnend in auf meinem Klappstuhl auf der Tribüne. Ich will eine Pause, ich brauche Luft und Licht.

15 Uhr 50

Stahl: „Ich bräuchte eine kurze Pause weil ich nachdenken muss.“

Götzl: „Machen wir Pause bis 16 Uhr.“

15 Uhr 55

Im Pausenraum kommen zwei uniformierte Polizisten zu mir. Einer fragt: „Sie sind die Gerichtszeichnerin?“ Der andere: „Der Angeklagte hinten rechts darf auch nicht gezeichnet veröffentlicht werden.“

16 Uhr 11

Die Zeichnung der Person im Zeugenschutz im Verhandlungssaal als weiße Fläche umgeben von zwei Anwälten, die beiden sind regulär gezeichnet.

16 Uhr 18

Im Verhandlungssaal hakt Götzl nach: „Herr Stahl, mir drängt sich der Verdacht auf, dass sie eine Diskussion wollen.“ Stahl reagiert: „Ich habe versucht eine Diskussion zu vermeiden. Ich komme zurück auf meine Ausgangsfrage.
Herr Saß, das „Große und Ganze“ was heißt das? Das Zutreffen aller Tatvorwürfe der Anklage?“

Weingarten reagiert: „Ich beanstande das jetzt, nachdem offenbar Hinweise des Vorsitzenden Richter nicht gehört werden. Der Sachverständige hat dazu eingehend Stellung genommen. Ihnen steht kein Vernehmungsrecht zu und keine Wiederholungsfragen. Der Beschleunigungsgrundsatz gilt auch auf der Mikroebene!“

Oberstaatsanwalt Jochen Weingarten, Oberstaatsanwältin Anette Greger und Bundesanwalt Herbert Diemer gehören zur Anklage, also zur Bundesanwaltschaft.

16 Uhr 27

Beate Zschäpe stützt sich auf ihre Unterarme und lehnt sich nach vorn. Borchert schaut hoch. Götzl fragt: „Frau Zschäpe, sie haben Kopfschmerzen, können wir noch das Thema abschließen?“

16 Uhr 50

Götzl beendet den Verhandlungstag: „Ich denke, dass wir hier unterbrechen und am Dienstag fortsetzen.“

Vor dem Gerichtsgebäude, was in moderner Beton-Architektur in den Himmel ragt, steht ein rot-weißes Absperrgitter.

Die Bundesanwaltschaft klagt in diesem Prozess fünf Menschen an.

Nur die Beteiligung oder Unterstützung des NSU-Netzwerkes genau dieser fünf spielt eine Rolle.

Die Analyse der Tiefe der Wurzeln des NSU in der deutschen Gesellschaft muss auch woanders stattfinden.

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